16.08.2012
Zum Inhalt
Seit vielen tausend Jahren lebt das Volk der D’ni tief verborgen unter der Erdoberfläche. Sie kamen ursprünglich aus einer anderen Welt. Jetzt brechen die begnadeten Bergleute mit Hilfe mächtiger Maschinen den Fels, bauen Tunnel und beuten die Ressourcen im Erdinneren aus. Die besten Vertreter der Gilde der Bergleute bekommen den Auftrag, einen Tunnel hinauf zur Erdoberfläche zu bauen. Eine Gruppe von Absolventen der Gilden-Akademie nimmt ebenfalls daran teil. Die jungen Leute assistieren den Gildenmeistern und übernehmen die körperlich anstrengenderen Arbeiten.
Atrus ist einer von ihnen. Der junge Gildenmann interessiert sich sehr für Vulkanismus. In seiner wenigen Freizeit führt Atrus kleine Experimente durch und erweitert damit sein Wissen. Sein Engagement bleibt den Leitern der Expedition nicht verborgen.
Atrus erhält eines Tages überraschend Unterstützung durch Veovis, einen Bekannten aus Kindertagen. Zum feierlichen Abschluss des Tunnelbaus sehen sich die beiden zum ersten Mal wieder. Wenig später erschüttert ein gewaltiges Erdbeben Teile des Tunnels, bei dem einige Teilnehmer der Abschlussfeier ihr Leben verlieren. Atrus bewahrt Veovis vor dem sicheren Tod. Dieser verspricht seinem Retter die Erfüllung eines Wunsches, egal was es sei. Das Unglück wird von den D’ni als schlechtes Vorzeichen gedeutet. Das Tunnelende wird versiegelt und der Kontakt zur Oberfläche abgebrochen.
Ungefähr 30 Jahre später durchqueren zwei Forscher auf der Erdoberfläche ein Wüstengebiet. Auf ihrem Weg entdecken sie voller Verwunderung den verschlossenen Tunnelausgang. Anna und ihr Vater sind im Auftrag eines regionalen Stadthalters unterwegs. Sie forschen nach Bodenschätzen und kartographieren das Gebiet. Es gelingt ihnen, einen weiteren Zugang ins Erdinnere zu finden. Später wird Annas Vater krank und stirbt. Anna beschließt, die Arbeit in der Wüste aufzugeben und an einem anderen Ort neu anzufangen. Vor ihrer Abreise schaut sie ein letztes Mal in den Gang unter die Erde. Anna gibt ihrem Forscherdrang nach und gelangt nach D’ni.
Dort ist Veovis in der Zwischenzeit politisch und gesellschaftlich aufgestiegen. Er ist ein Meister der Schreibergilde und nimmt in der Regierung eine bedeutende Position ein. Sehr häufig steht er den fünf großen Lords bei wichtigen Fragen beratend zur Seite. Auch sein Freund Atrus ist Ratsmitglied. Sie sind nicht immer der gleichen Meinung. Eines Tages bringt Atrus den Antrag ein, das Kontaktverbot mit den Oberflächenbewohnern noch einmal zu überdenken. Veovis ist entschieden dagegen und äußert seine Bedenken gegen die Einflüsse von außen auf das Volk der D’ni. Kurz bevor es zur Abstimmung kommt taucht Anna auf.
Anna wird in Gewahrsam genommen. Die Führer der D’ni sind ratlos und spielen auf Zeit. Das Mädchen wird an einem Ort isoliert und mit allem Lebensnotwendigen versorgt. Zur Überraschung ihrer Bewacher lernt Anna relativ schnell die Sprache der D’ni. Ein alter Gildenmeister ist während dieser Zeit ihre einzige Kontaktperson. Durch ihr freundliches und höfliches Auftreten kann sie sein Herz gewinnen. Der alte Mann spürt ihr echtes Interesse am Leben in D’ni und bewundert ihre Intelligenz und schnelle Auffassungsgabe.
Eine Anhörung vor dem Hohen Rat soll darüber entscheiden, ob Anna in Zukunft in D’ni leben darf oder in ein Gefängniszeitalter gesteckt wird. Anna muss sich in einem dramatischen Kreuzverhör den unbequemen Fragen von Veovis stellen. Er setzt alles daran, irgendeinen Makel an ihr zu finden. Der Rat beschließt, Anna in die Obhut von Atrus‘ Familie zu geben. Veovis kann sich mit dieser Entscheidung einfach nicht abfinden und versucht in der Folgezeit, immer wieder auf Annas Schicksal Einfluss zu nehmen.
In den folgenden Jahren kommen sich Anna und Atrus näher. Er bringt ihr das Lesen und Schreiben der Sprache der D’ni bei. Außerdem weiht er sie in die Geheimnisse seines Volkes ein.
Als Veovis davon erfährt, dass Atrus und Anna heiraten wollen, ist er als einziger im Hohen Rat dagegen. Atrus muss ein altes Versprechen einfordern. Die Freundschaft zwischen den beiden zerbricht. Anna wird später eine normale Bürgerin nach dem Gesetz der D’ni.
In den folgenden Jahren setzt sie sich zusammen mit Atrus für soziale Reformen ein. Beide wollen die Lebensbedingungen der niederen Klassen in den ärmeren Gebieten der Stadt verbessern. Veovis reagiert auf dieses Vorhaben entsetzt und ablehnend. Er ist gegen jede Veränderung in der Gesellschaft, isoliert sich durch dieses Verhalten aber immer mehr.
In dieser Situation nimmt der Aufwiegler A’gaeris mit Veovis Kontakt auf. Veovis glaubt seinen Versprechungen. Beide planen einen Umsturz, der aber fehlschlägt. Veovis wird gefangengenommen. Seine Verbrechen sollen mit dem Tod bestraft werden. Anna setzt sich für Veovis ein. Die Strafe wird in lebenslange Kerkerhaft in einem Gefängniszeitalter umgewandelt. A’gaeris befreit Veovis und die beiden verschwinden für einige Jahre.
Nach ungefähr vier Jahren erschüttert die Explosion einer großen Bombe die unterirdische Stadt. Veovis und A’gaeris sind zurückgekehrt und wollen D’ni endgültig zerstören. Ausströmendes, krankmachendes Gas tötet viele D’ni in den ersten Stunden. Die Einwohner versuchen in andere Zeitalter zu fliehen. Niemand ist vor dem Seuchengas sicher. Die Verbrecher infizieren auch andere Zeitalter und zerstören die Stadt.
Atrus steckt sich ebenfalls mit der Seuche an. Er kann A’gaeris in eine Falle zu locken, kommt darin aber auch selbst um.
Anna flieht mit ihrem Sohn durch den Tunnel an die Erdoberfläche.
Das Leben in der Kluft wird hart sein, aber Anna ist voller Hoffnung …
Hintergrund
Myst – Das Buch Ti’ana ist der zweite von drei Romanen, die den Hintergrund der Computerspielreihe Myst von Cyan Worlds näher beleuchten. An der Entstehung des Buches waren Rand Miller, Chris Bradkamp, Richard Watson, Ryan Miller und David Wingrove beteiligt. Im Jahr 1997 erschien das Buch in deutscher Sprache.
Die in den Romanen erwähnte Kluft sollte sich ursprünglich irgendwo im Mittleren Osten befinden, in Wirklichkeit liegt sie aber in New Mexiko.
Der Roman beschreibt Ereignisse, die vor denen in »Myst – Das Buch Atrus« liegen. Anna und ihr Sohn leben nach dem Untergang von D’ni mehrere Jahre in der Kluft.
Mit 14 Jahren verlässt Gehn seine Mutter, um nach fünf Jahren mit seiner schwangeren Frau Keta zurückzukehren. An dieser Stelle setzt die Handlung des ersten Myst-Romans ein. Keta stirbt bei der Geburt ihres Sohnes, den Gehn in der Kluft zurücklässt. Anna benennt das Kind nach seinem Großvater Atrus.
Persönliche Wertung
Der Roman ist vor allem dem Genre Fantasy zuzuordnen. Gleichzeitig lassen sich aber auch Elemente aus der Science-Fiction, Szenen eines Entwicklungsromans, eine Liebesgeschichte oder Merkmale eines Polit-Thrillers entdecken.
Die Beschreibung des Tunnelbauunternehmens am Anfang des Romans ist überaus interessant und anschaulich. Den Autoren gelingt es, den Leser in die Handlung hineinzuziehen. Das geduldige und wohldurchdachte Vorgehen der Bergleute vermittelt eine gute Vorstellung von der Lebensweise der D’ni. Ausgestattet mit einer höheren Lebenserwartung als die Menschen auf der Erdoberfläche können sie sich mehr Zeit lassen, ihr Vorgehen länger planen und verfallen nicht in Hektik, wenn es zu Rückschlägen kommt. So stark und massiv wie ihre Tunnel sollte auch die Gesellschaft der D’ni sein.
Die Handlung des Romans umfasst einen relativ langen Zeitraum und gibt seinen Hauptfiguren Zeit, sich zu entwickeln. Der Leser trifft am Anfang auf den jungen Atrus, der gerade sein Studium an der Akademie erfolgreich beendet hat und sich auf seiner ersten Erkundungsfahrt befindet. Der junge Gildenmann ist noch sehr zurückhaltend und sich seiner unbedeutenden Stellung wohl bewusst. Er weiß, dass er noch viel lernen und Erfahrungen sammeln muss. Sein Engagement verschafft ihm unter seinen Kameraden einen gewissen Respekt und Anerkennung. Man kann erahnen, welche Rolle er einmal in der Zukunft spielen könnte, wenn er seinen Weg konsequent weiter verfolgt.
Gänzlich andere Voraussetzungen hat dagegen Veovis. Er stammt aus einer höheren Gesellschaftsschicht. Ihm ist dadurch eine spätere Führungsposition quasi in die Wiege gelegt. Veovis und Atrus können sich während ihrer Schulzeit nicht besonders leiden, es kommt zwischen den beiden sogar zu einer Prügelei. Später beschenkt Veovis den vollkommen überraschten Artus. Er scheint sich nach einem Freund zu sehnen, der nicht aus einer Schicht kommt. Vielleicht hat er auch nicht viele wahre Freunde.
Diese beiden Männer begegnen dem Leser rund 30 Jahre später. Beide haben Karriere gemacht und ihre Möglichkeiten genutzt. In einer Zeit dramatischer Veränderungen werden dem Leser nachvollziehbar die Stärken und Schwächen der beiden Männer vor Augen geführt. Atrus ist aufgrund seiner Erfahrung und charakterlichen Reife in der Lage, sich auf die neue Situation einzustellen. Er vertritt seinen Standpunkt, ist aber auch fähig, sich von seiner eigenen Meinung zu distanzieren und anderen zuzuhören. Veovis dagegen verhält sich häufig sehr unreif. Er beharrt auf seinen Ansichten, ohne abweichende zu respektieren. Er ist leicht beeinflussbar, eigensinnig, empfänglich für Schmeicheleien und neigt zu irrationalem Handeln. Veovis‘ Scheitern ist tragisch, aber auch logisch.
Die perfide Intrige des A’gaeris ist so perfekt und hinterhältig, dass man als Leser mit angehaltenem Atem der Handlung folgt.
Die Liebesgeschichte zwischen Anna und Atrus ist einfach wunderbar beschrieben. Anfangs nimmt er in ihrer Beziehung noch die Rolle des Lehrers ein, später wird sie zu einer echten Partnerin für ihn. Atrus nennt Anna liebevoll „Ti’ana“ (Geschichtenerzählerin). Es macht Spaß zu verfolgen, wie die beiden ihre Welt Gemedet erkunden. Jeder ist vom anderen immer wieder von neuem überrascht und fasziniert. Der Prozess des sich Näherkommens reißt den Leser mit. Vor allem kommt das Ganze vollkommen ohne Kitsch und Plattheiten aus. Wunderschön finde ich diese Beschreibung ihrer Liebesbeziehung: »… als seien sie jeder das Buch des anderen – miteinander verbunden über Raum und Zeit.« ([1]; S. 423)
Der Untergang des Reiches der D’ni ist tragisch und unausweichlich. Die Gesellschaft erscheint so sicher und fest, steht jedoch auf tönernen Füßen, ist ein Imperium am Tiefpunkt. Anna erkennt, dass sich die Welt der D’ni vor ihrem Niedergang befindet. Ihr Vater hat sie gelehrt, das zu erkennen: »Für die Armen Gleichförmigkeit, in Kleidung und Wohnung, und für die Reichen … nun ‚alles’…« ([1]; S. 194) Der Roman regt also auch zum Nachdenken an, und es lassen sich gelegentlich kritische Töne an unserer heutigen Weltordnung entdecken.
Ich kann den Roman jedem an phantastischer Literatur interessierten Leser nur wärmstens empfehlen. Für Kenner der Myst-Reihe ist das Buch ohnehin ein Muss. Die spannende Handlung enthüllt weitere Facetten aus dem Leben des geheimnisvollen Volkes der D’ni.
Zum Buch
Originaltitel: | MYST – The Book of Ti’ana |
Autoren: | Rand Miller und David Wingrove |
Deutsch: | Barbara Röhl |
Verlag: | Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach |
Seitenzahl: | 448 |
Ausgabe: | Gebunden |
Quellen
[1] Myst – Das Buch Ti’ana, Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach
Das Bild von Atrus wurde nach einem Screenshot aus dem Computerspiel Riven der Firma Cyan Worlds erstellt.
Die Bilder Der kleine Teich in der Kluft, Leben in der Kluft, Vorratsraum in der Kluft, Leben in D’ni und In D’ni wurden nach Screenshots aus dem Computerspiel MYST ONLINE: URU LIVE AGAIN der Firma Cyan Worlds erstellt.
Das Bild Ti’anas Grab in Myst wurde nach einem Screenshot aus dem Computerspiel realMyst der Firma Cyan Worlds erstellt.