22.05.2011
Zum Inhalt
Stas Popow, ein junger Kyber-Techniker, gehört zu einem Team, das die Möglichkeiten des Terraforming eines fremden Planeten untersucht. An der Expedition nehmen die Besatzungen von insgesamt zwölf Raumschiffen teil, die in verschiedenen Klimazonen des Planeten gelandet sind. Bei dem »Arche« genannten Unternehmen handelt es sich um eine kosmische Hilfsaktion für die Zivilisation auf dem Planeten Panta. Dessen Sonne wird sich innerhalb kurzer Zeit zu einer Supernova entwickeln und alles Leben vernichten. Die Pantianer leben auf einer relativ niedrigen Entwicklungsstufe und sind nicht in der Lage, sich selbst zu helfen, ahnen zudem auch nichts von der drohenden Katastrophe.
Auf den ersten Blick erscheint der Planet für eine Umgestaltung und Besiedlung überaus geeignet. Oberfläche, Klimazonen und Meere erinnern an die Erde.
Nur wenige Lebensformen werden entdeckt. Es erscheint unkompliziert, die Flora und Fauna des Planeten Panta umzusiedeln.
Die unheimliche Leere und Stille machen dem Landungsteam am meisten zu schaffen. Auf einmal geschehen unerklärliche Dinge. Die zum Bau eines Landeplatzes eingesetzten Kyber verhalten sich eigenartig, entwickeln eine Art Eigenleben. Stas hört Geräusche und Stimmen, fühlt sich beobachtet und sieht Phantome. Anfangs zweifelt er am eigenen Verstand und ist bemüht, sich den anderen Kollegen gegenüber nichts anmerken zu lassen. Dann findet sein Team ein abgestürztes Raumschiff und der Urheber der unheimlichen Vorgänge taucht auf. Es ist »Der Kleine« (Knirps), ein Menschenkind. Äußerlich erinnert er an einen zwölfjährigen Jungen. Sein Körper ist irgendwie verbogen, von vielen Narben entstellt. Er ist nackt, wobei ihm die arktischen Außentemperaturen nichts auszumachen scheinen. Außerdem verfügt er über Fähigkeiten, die kein Mensch haben kann.
Die Raumfahrer bewegen viele Fragen: Ist er ein Überlebender der Mannschaft des abgestürzten Raumschiffs? Wie konnte er in der unwirtlichen Welt am Leben bleiben? Was sind das für gewaltige und unbegreifliche Wesen, die immer dann am Horizont auftauchen, wenn der Junge die Besatzung besucht.
Der Planet scheint von einer außerirdischen Intelligenz bewohnt zu sein. Gennadi Komow, bevollmächtigt durch die Kommission für Kontakte (KomKon), will den Kontakt zu den Außerirdischen erzwingen. Der Kleine soll hierbei der Mittler sein. Doch der Kontakt mit dem Jungen ist für beide Seiten anstrengend. Der Kleine ist an den Gesprächen interessiert. Er lernt dabei auf verschiedene Art und Weise alle Besatzungsmitglieder kennen. Immer deutlicher äußert er die Bitte, dass die Untersuchung abgebrochen und die Menschen den Planeten verlassen mögen. Die Begegnungen wühlen ihn jedes Mal von neuem auf und nehmen ihm etwas von seiner Lebenskraft…
Im Orbit des Planeten wird später ein getarnter und bewaffneter Satellit entdeckt, der vermutlich von den »Wanderern« stammt.
Hintergrund
Die Erzählung »Die dritte Zivilisation« erschien 1971 auf Russisch und spielt im »Mittags«-Zyklus der Strugatzkis. Zeitlich ist die Handlung Anfang bis Mitte der 60er Jahre des 22. Jahrhunderts einzuordnen, jedoch nach der Katastrophe auf dem Regenbogenplaneten (»Der ferne Regenbogen«). Belegt wird dies durch den Umstand, dass die Beförderung von wissenschaftlichen Geräten inzwischen mittels Null-Transport erfolgt.
Die Semjonows, die Eltern des Kleinen, müssen ihren Raumflug in den 30er Jahren unternommen haben.
Verschiedene Personen aus dem Zyklus »Mittag, 22. Jahrhundert« spielen in der Erzählung eine wichtige Rolle. Leonid Gorbowski ist inzwischen Leiter der Kommission für Kontakte (KomKon), Gennadi Komow in deren Auftrag unterwegs, während Michael Sidorow (Athos der Pechvogel) das gesamte Unternehmen »Arche« zur Rettung der Panta-Zivilisation leitet. Maja Glumowa begegnet man später in der Maxim-Kammerer-Trilogie wieder.
Am Schluss des Buches wird in einem Gespräch zwischen Gorbowski und Komow ein »gewisser Karl-Ludwig« erwähnt, der den Spitznamen »Wanderer« trägt und ein Inselimperium befriedet haben soll ([1], S. 264). Hierbei kann es sich nur um Rudolf Sikorski handeln, der auf dem Saraksch (»Die bewohnte Insel«) mit seinen Progressoren an der Rettung eines ganzen Planeten und dessen Bevölkerung arbeitet.
Persönliche Wertung
Die Erzählung ist so spannend geschrieben, dass man das Buch kaum weglegen mag, ehe man es zu Ende gelesen hat. Besonders faszinierend ist die beeindruckende und detailreiche Darstellung der Konfrontation mit dem ganz Fremdartigen.
In ihren Werken nehmen die Strugatzkis oft auch auf politische Vorstellungen, Ereignisse und Entwicklungen in ihrer Zeit Bezug. So klingt in dieser Erzählung eine leise Kritik an der Praxis an, sich auf Grund von Theorien über historische Zusammenhänge in die Angelegenheiten anderer Völker einzumischen. Stas Popow vertritt die Meinung, die Menschheit wäre soweit entwickelt, dass sie einschätzen könne, welche gesellschaftliche Entwicklung die Beste wäre. Daraus ließe sich dann die Berechtigung zur Einflussnahme auf Entwicklungsprozesse anderer Zivilisationen ableiten. Maja Glumowa ist dagegen der Ansicht, dass »wir verschwindend wenig wüssten«. ([1], S. 114)
Eine interessante, aber auch unerwartete Entwicklung muss Gennadi Komow durchlaufen haben. Dem Leser ist er noch als umsichtiger Leiter des ersten Landungstrupps auf der Leonida in »Mittag, 22. Jahrhundert« in Erinnerung. Seit damals sind rund 30 Jahre vergangen. ([3]) Jetzt erfüllt er alle Kriterien des Typs »zerstreuter Wissenschaftler«. Seine Handlungen wirken rätselhaft und hektisch, mit seinen Gedanken scheint er oft anderswo zu sein. Seine Umgangsformen sind häufig anstrengend. Er leidet darunter, sich seinen Kameraden gegenüber nicht richtig verständlich machen zu können. Mit aller Macht will er den Kleinen auf die Seite der Menschheit ziehen. Dabei geht er rücksichtslos vor, bemerkt nicht, wie der Junge unter seiner Zerrissenheit leidet. Er ist so besessen von seiner Theorie und stellt den Erkenntnisgewinn über alle ethischen Werte. Nur Gorbowski vermag es durch seine freundliche Art, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Die Entwicklung Komows ist erstaunlich, zeigt aber auch, dass die Mittagswelt der Strugatzkis lebt und nicht statisch ist.
Komow ist ein brillanter Wissenschaftler und seine Theorie vom »Vertikalen Progress« halte ich für genial. Er ist davon überzeugt, dass sich der Mensch nach Verlassen des Heimatplaneten zu einem galaktischen Wesen weiterentwickeln müsse. Für Popow dagegen ist das nur eine weitere Theorie, die an der Realität scheitern könnte. Auf ihren Flügen durch das Weltall nehmen die Besatzungen immer ein Stückchen ihres Heimatplaneten mit und versuchen, am Zielort ihre gewohnten Umweltbedingungen zu schaffen. Dabei wäre es für eine Ausbreitung der Menschheit in der Galaxis notwendig, den Menschen jeweils an bestimmte Gegebenheiten anzupassen. Diesen überaus interessanten Gedanken findet man übrigens auch bei Dan Simmons in den Büchern »Hyperion« und »Endymion« in Gestalt der »Ousters«.
Besonders inspirierend finde ich die Darstellung der Beziehungen zu den fremden Zivilisationen. Interessant ist die Beschreibung der sich dabei ergebenden Schwierigkeiten und Konflikte. Menschliche Beziehungen an sich sind schon oft problematisch, wie kompliziert ist dann erst eine Begegnung von Wesen unterschiedlicher Welten?! Es wird deutlich, wie schwierig es ist Kontakte zu knüpfen.
Durch das Wiedersehen von vertrauten Personen und die Verknüpfung von Handlungssträngen aus verschiedenen Werken fügt sich die Erzählung wunderbar in den Zyklus »Mittag, 22. Jahrhundert« ein. Sie ist etwas anspruchsvoller, bringt dem Leser die Zukunftswelt der Strugatzkis näher und lässt ihn darin noch tiefer eintauchen.
Zum Buch
Russischer Originaltitel: | Малыш (Der Knirps) |
Autoren: | Arkadi und Boris Strugatzki (auch Strugazki) |
Deutsch: | Aljonna Möckel |
Verlag: | Verlag Das Neue Berlin 1975 |
Seitenzahl: | 278 |
Ausgabe: | gebunden mit Schutzumschlag |
Quellen
[1] Die dritte Zivilisation – Verlag Das Neue Berlin 1976
[2] Quarber Merkur 93/94 – Franz Rottensteiners Literaturzeitschrift für SF und Phantastik
[3] The Sci-Fi Writers Strugatzky – XXII. Century – http://rusf.ru/abs/english/e-22-0.htm
Die Illustrationen:
- von M. N. Lisogorski stammen von der Seite »Фантасты братья Стругацкие: Иллюстрации: Лисогорский Марк Наумович (1940-2011)«. Sie erschienen in dieser Buchausgabe: Стажеры – Стругацкий А. – М.: Детская литература, 1985
- von L. J. Rubinstein stammen von der Seite „Фантасты братья Стругацкие: Иллюстрации: Рубинштейн Лев Яковлевич (р. 1922)“. Sie erschienen in dieser Buchausgabe: Малыш – Стругацкий А., Стругацкий Полдень, XXII век; Малыш. – Л.: Дет. лит., 1975.
Die Veröffentlichung der Zeichnungen erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch Vladimir Borisov (Redakteur der Seite »Фантасты братья Стругацкие«).