15.08.2021
Zum Inhalt
Iwan Shilin, Geheimdienstmitarbeiter des Sicherheitsrates, kommt in einen südlichen Ferienort eines kleinen, scheinbar wohlhabenden Landes. Seiner Legende nach ist er Schriftsteller, der einfach Urlaub machen und nebenbei schreiben möchte. Von außen betrachtet, geht es den Bewohner der Stadt sehr gut. Sie haben einen vierstündigen Arbeitstag und in ihrer Freizeit steht ihnen eine Fülle an Unterhaltungsangeboten zur Verfügung. Ein umfangreicher Dienstleitungssektor verspricht die Erfüllung aller denkbaren Wünsche und Sehnsüchte.
Der Agent ist jedoch nicht ohne Grund in das idyllisch anmutende Örtchen gereist. Shilins soll herausfinden, wer der Hersteller und Vertreiber einer neuen Droge ist, von der man nur weiß, dass sie aus diesem Land kommt und zum Tod führt.
Seine Kontaktperson, einen gewissen Riemaier, kann Iwan nicht erreichen. So stürzt sich Shilin erst einmal in das Stadtleben. Er besucht verschiedene Lokalitäten, nimmt Dienstleistungen in Anspruch und unterhält sich mit einigen Einwohnern. Ihn erschüttern viele Aussagen seiner Gesprächspartner. Er stellt bei ihnen eine große Verarmung der geistigen Bedürfnisse fest. Gleichzeitig wirken sie gefühlsmäßig abgestumpft und süchtig nach jedweder Unterhaltung, Hauptsache sie ist aufregend und amüsant. Mehrmals hört Iwan, dass es so »schön lustig sei, und man brauche an nichts zu denken«.
In Ermangelung starker Empfindungen amüsieren sich die Menschen auf jede erdenkliche Art und Weise. Die Mitglieder der »Fischer« bspw. veranstalten tödliche Partys in den Tunneln der verlassenen Metro und die »Mäzene« beschaffen sich Kunstwerke, um sie bei ihren geheimen Treffen rituell zu zerstören.
Vertreter irgendwelcher sozialer Organisationen ziehen demonstrierend durch die Stadt und werden von den anderen Einwohnern verspottet oder schlicht ignoriert. Die einzige zielgerichtete Aktion war der Streik der Friseure im letzten Jahr. Sein Zweck war jedoch einfach lächerlich. Die Friseure wollten, dass ihre Lieblings-Fernseh-Serie unbedingt weitergedreht wird.
Die Mitglieder der »INTELs« – Professoren und Studenten der Universität – hassen den gedankenlosen und sinnentleerten Lebensstil der Durchschnittsbürger. Sie begehen Terroranschläge, um den gesellschaftlichen Sumpf aufzurütteln, haben dabei jedoch keinen Erfolg. Jeder Durchschnittsbürger verachtet die »INTELs« und will nichts mit ihnen zu tun haben.
Dann begegnet Shilin Riemaier. Der versucht Iwan abzuwimmeln und gibt ihm nur den Rat, die »Fischer« zu besuchen.
Shilin geht zu den »Fischern« und begreift, dass Riemaier ihn nur loswerden wollte. Doch einer der »Fischer« gibt ihm einen Hinweis. Iwan erfährt von einer Droge für Liebhaber starker Empfindungen, die »Sleg« genannt wird. Vertreiber des Mittels sei ein gewisser Buba. Der wiederum entpuppt sich als alter Bekannter. Pek Zenai und Iwan unternahmen mehrere Weltraumflüge. Gemeinsam erlebten sie viele aufregende Abenteuer. Später kämpften sie Seite an Seite in einem Krieg gegen Neo-Nazis. Nun kann Iwan seinen Freund kaum wiedererkennen. Denn der ist zum Alkoholiker geworden und will sich nicht an die Vergangenheit erinnern.
Buba gibt Iwan einen Sleg, der sich als kleines Radiozubehör erweist und außerdem eine genaue Anleitung, wie man es verwendet. Das Bauteil muss in einen Radioempfänger anstelle eines normalen Überlagerers eingesetzt werden. Beide Teile haben die gleiche Größe.
Zurück in seiner Pension probiert Iwan den Sleg aus. Er nimmt einige Dewon-Tabletten (ein Mückenpräparat), legt sich in ein warmes Bad und schaltet den Empfänger ein. Stunden später erwacht Shilin, als das Badewasser abgekühlt ist. Die Wirkung des Slegs ist überwältigend.
Iwan fühlt sich unbeschreiblich gut, wunderbar erholt und erfrischt. In seinem Kopf empfindet er »eine vollständige, geradezu kosmische Leere«. [3]
Das Gerät hat die Eigenschaft, alle unbewussten Wünsche eines Menschen zu erfüllen, ohne unangenehme Gefühle zu hinterlassen. Aber diese Illusion hält nicht lange an, sondern bedarf der Auffrischung durch erneute Nutzung des Slegs.
Als Iwan den Sleg genauer untersucht, stellt er fest, dass es sich um ein simples Bauteil handelt, das in vielen Haushaltsgeräten verwendet wird und in jedem Geschäft für einen geringen Preis zu haben ist. Nun erkennt er, dass sich seine Vorgesetzten geirrt haben. Sie waren fest davon überzeugt, dass zu einer Droge auch die Mafia sowie Hersteller und Vertreiber gehören.
Die Entdeckung der Wirkung der Droge geschah jedoch rein zufällig. Jemand steckte eines Tages versehentlich einen Sleg anstelle eines Überlageres in einen Empfänger, legte sich in die Badewanne und erlebte ein unglaubliches Gefühl. Die Nachricht darüber verbreitete sich, das Experimentieren begann. Man fand anschließend noch heraus, welche Anwendung die stärkste Reaktion hervorruft.
All diese Umstände erklären auch die geheimnisumwitterten Andeutungen und Gerüchte. Nur wenige Menschen können oder wollen über die Wirkung der Droge sprechen. Denn je öfter der Sleg benutzt wird, umso mehr verliert der Süchtige den Kontakt zur Realität. Er verwendet die Droge so lange, bis ihn die nervliche Erschöpfung umbringt.
Shilin kann der Wirkung des Slegs widerstehen, schätzt jedoch realistisch ein, dass das nicht jedem Menschen gelingen wird. Er begreift, dass die Nutzung der Droge weder verboten noch kontrolliert werden kann. Iwan sieht nur eine Möglichkeit, den Sleg zu bekämpfen und schlägt deshalb vor, einen hundertjährigen Plan zur Wiederherstellung und Entwicklung einer menschlichen Weltanschauung in dem kleinen Land zu erstellen. Nur so kann die Lebenseinstellung seiner Bewohner und deren Konsumverhalten verändert werden.
Die Vorgesetzten betrachten Iwans Standpunkt als pure »Philosophie«, da sein Vorschlag keine schnellen und entschlossenen Maßnahmen zur Beseitigung einer Bedrohung impliziert. Shilin beschließt, in der Stadt zu bleiben.
In der Ausgabe von 1965 und in der deutschen aus den 80er Jahren hofft Iwan, unter den Einwohnern Gleichgesinnte zu finden. Zusammen mit ihnen würde er alles tun, damit die Einheimischen ihr Leben nicht für Belanglosigkeiten verschwenden und ihnen dabei helfen, wieder »Menschen« zu werden…
Hintergrund
Der Roman enthüllt einige interessante historische Details des Übergangs zwischen Vorgeschichte und zweiter Ebene des Mittags-Zyklus. Das kommunistische System hat sich noch auf der gesamten Erde ausgebreitet; es gibt noch Nationalstaaten und Monarchien, von denen einige interne bewaffnete Konflikte und sogar Hungerprobleme haben. Der Sicherheitsrat ist bestrebt, diese Staaten zu befrieden.
Nach langem Kampf mit der Zensur und einigen »Entstellungen« (Boris Strugatzki) erscheint der Roman erstmals 1965 in russischer Sprache. Auf Deutsch wurde er 1980 im Verlag Volk und Welt veröffentlicht.
In der überarbeiteten Werksausgabe 5 wurden alle durch die Zensur veranlassten »Entstellungen« beseitigt und das Buch kann jetzt in der Form gelesen werden, wie es ursprünglich von den Autoren gedacht war. Die Version von 1965 bzw. die deutsche aus den 80er Jahren endet etwas hoffnungsvoller und wird von vielen Lesern bevorzugt.
Persönliche Wertung
Am Beginn des Romans steht ein Zitat:
»Es gibt nur ein Problem in der Welt, ein einziges – den Menschen geistigen Inhalt wiederzugeben, geistige Sorgen.«
Antoine de Saint-Exupery
Die Strugatzkis kehren zu einem Thema zurück, das sie in ihren Werken wiederholt angesprochen haben (»Praktikanten«, »Der Montag fängt am Samstag an«) – das Problem des Spießbürgertums. Ein niedriges Niveau der geistigen Bedürfnisse bringt Menschen dazu, auf einem Niveau zu leben, das ihrer nicht würdig ist.
Shilins geistige Auseinandersetzung mit Riemaier ähnelt dem ewigen Streit zwischen denen, die den Rückzug aus der realen Welt rechtfertigen, sei es unter dem Einfluss von Drogen oder Computerspielen, und denen, die versuchen, sie davon abzuhalten, indem sie erklären, was daran falsch ist. Denn diese Welt ist doch nur eine Illusion, »sie ist ganz in dir, nicht aber außerhalb deiner, und alles was du in ihr tust, bleibt in dir. Sie ist der realen Welt entgegengesetzt, sie ist ihr feindlich. Menschen, die sich in die illusorische Welt begeben haben, sind für die reale Welt verloren. Das ist, als würden sie sterben.« ([1], S. 296/297)
Bei näherer Betrachtung verwandelt sich die Wohlfahrtsgesellschaft der Stadt in eine Zerstörungsgesellschaft, in der 90 Prozent der Bevölkerung im Dienstleistungssektor beschäftigt sind. Es ist eine Gesellschaft, die nichts Neues hervorbringen, sondern nur zerstören kann, was von früheren Generationen geschaffen wurde. Es macht mehr Spaß, ein Bild zu verbrennen, als es zu malen.
Eine Szene des Romans hat mich besonders betroffen gemacht. Iwan Shilin entdeckt bei seinem Streifzug durch die Stadt einen LKW, auf dessen Ladefläche neben Alltagsdingen auch Bücher angeboten werden. Nicht irgendwelche, sondern seltene und überaus wertvolle Ausgaben. Sie sind kostenlos, nur interessiert sich niemand dafür. Ich erinnere mich, wie schwer es teilweise in der DDR war, bestimmte Literatur zu erhalten und welche Glücksgefühle das Finden eines begehrten Exemplars in einem Antiquariat bei mir auslöste. Bücher sind auch heute nicht kostenlos, aber fast jedes Buch kann gekauft werden. Viele Menschen sind jedoch nicht an Büchern interessiert. Recht häufig höre ich das unbedarfte Urteil: »… zu anstrengend zu lesen, die sollten einen Film drüber machen!«
Arkadi und Boris Strugatzki formulierten 1965 folgende These: »Eine Gesellschaft der Muße und des gesicherten Konsums, selbst wenn sie von materieller und politischer Unterdrückung befreit ist, wird den Menschen nur zunehmend pervertierten, primitiven Bedürfnissen unterwerfen, aber nicht zu seiner ›Erhebung‹ führen.« [4] Denn ein materiell reicher und wohlgenährter Durchschnittsbürger bleibt ein Durchschnittsbürger, und seine Bedürfnisse werden, wenn sie rein materiell bleiben, nur immer anspruchsvoller.
Das Dilemma des Buches und weiterer Publikationen, die sich dem Thema widmen, besteht jedoch darin, dass die Menschen, deren Leben in diesem Buch thematisiert wird, dieses nie lesen werden. Und wenn sie es täten, würden sie nicht verstehen, dass es hier um sie geht. Diejenigen jedoch, die es lesen und die Tiefe der Gedanken begreifen und sich deren Inhalt zu Herzen nehmen, stehen gar nicht in der Gefahr, sich in reiner Unterhaltung zu verlieren.
Die Vorstellung, die Welt aus »Die gierigen Dinge« könnte Realität werden, ist beängstigend. Das Buch beschreibt Merkmale einer modernen Gesellschaft und der Leser fragt sich, ob er vielleicht schon in einer solchen Welt lebt. Was wäre, wenn unser Glück nur das eines gewöhnlichen Tieres wäre, das isst, schläft, sich fortpflanzt und an nichts denkt?
Um zu erklären, was passieren kann, sei an ein ziemlich berühmtes Experiment erinnert, das mit Ratten durchgeführt wurde. Die US-Forscher James Olds und Peter Milner vom California Institute of Technology entdeckten bei ihren Versuchen im Jahr 1954 das Belohnungssystem des Gehirns. Sie implantierten Elektroden direkt in den Hypothalamus der Versuchstiere. Drückten die Ratten einen Hebel, so verpassten sie sich durch diese Elektrode selbst einen Stromschlag. Die Selbststimulation im Gehirn wurde von den Ratten als angenehm, d. h. als Belohnung empfunden, was dazu führte, dass der »Glückshebel« immer wieder gedrückt wurde – bis zur völligen Erschöpfung. Alle anderen Aktivitäten wie Fressen oder Schlafen wurden aufgegeben. [2]
Vielleicht werden künftige Generationen eines Tages die Situation dieser fiktiven Stadt erleben, denn ich glaube, wir bewegen uns bereits langsam auf dieses »Land der Narren« zu. Virtuelle Realität, chirurgische Schönheit, klug erdachte soziale Medien und nervenaufreibende Action halten mehr und mehr Einzug in unsere Wirklichkeit und lassen uns immer tiefer in künstliche Welten abtauchen.
Viele Dinge vernebeln unseren Geist und sollen uns helfen, unseren Problemen aus dem Weg zu gehen. Psychologen und Wissenschaftler arbeiten an Oberflächen von Computerprogrammen, bei deren Bedienung wir uns wohlfühlen. Ausgeklügelte Technik soll den Nutzer möglichst lange bei der Stange halten, Spieler stundenlang in den virtuellen Welten verbleiben lassen.
Wir gehen in Richtung der von den Strugatzkis beschriebenen Spaßgesellschaft, in dieses Reich der leichten Kost und billigen Unterhaltung. Boris Strugatzki zufolge hat die 1964 geschriebene Geschichte auch heute noch ihre volle Aktualität: »Wir stehen an der Schwelle zur Welt des Überflusses und müssen uns entscheiden, wie wir mit dieser Welt umgehen wollen.«
Das Buch ist eine Warnung: Ein Mensch sollte ein Mensch bleiben. Kein alles verschlingendes Tier. Aber wir hören nicht zu. Lesen Sie das Buch – vielleicht kann es jemand aufhalten!
Wenn nicht, wird die Menschheit vielleicht eines Tages zu der Ratte, die endlos auf den Hebel drückt, und schließlich ausstirbt…
Zum Buch
Russischer Originaltitel: | Хищные вещи века (Die gierigen Dinge des Jahrhunderts) |
Autoren: | Arkadi und Boris Strugatzki (auch Strugazki) |
Deutsch: | Welta Ehlert |
Verlag: | Verlag Volk und Welt 1980 |
Seitenzahl: | 160 |
Ausgabe: | Paperback |
Quellen
[1] Die gierigen Dinge des Jahrhunderts/Milliarden Jahre vor dem Weltuntergang – Verlag Volk und Welt 1980
[2] SCHALTKREISE DER MOTIVATION – dasGehirn.info
[3] Strugatzki Werkausgabe – Fünfter Band, Wilhelm Heyne Verlag München 2013
[4] Julia Tschernjachowskaja – Die Brüder Strugatzki. Briefe über die Zukunft (Черняховская Ю.С. – Братья Стругацкие. Письма о будущем), Монография, Научно-популярное издание, 2016
Das Bild »Jurkowski Monument« wurde von Kresek Laurence gezeichnet und erschien in der Ausgabe »The Final Circle of Paradise« – New York: DAW Books, 1976.
Die »Die gierigen Dinge des Jahrhunderts« und »Shilin und Wusi« wurden von Jana Aschmarina gezeichnet und erschienen in der Ausgabe »Миры братьев Стругацких«: Т. 2 [ХВВ]. – М.: АСТ; СПб.: Terra Fantastica, 1997